Wie es Juden in Wittichenau erging


von Tageblatt-Redaktion

Die Ausstellungstafeln stehen in der katholischen Kirche. Zu sehen sind die Projektergebnisse noch bis Ende des Monats
Die Ausstellungstafeln stehen in der katholischen Kirche. Zu sehen sind die Projektergebnisse noch bis Ende des Monats

Ein Jahr lang recherchierten die Wittichenauer Pfadfinder zum Schicksal der Juden in ihrer Heimatstadt. 11 Zeitzeugen konnten ihnen von Familie Neufeld berichten, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Wittichenau lebte. Aber nur eine Zeitzeugin erinnerte sich an deren Verschwinden.
„Stell dir mal vor, was heute Nacht los war! Heute haben sie die Juden abgeholt und die Wohnung versiegelt“, erinnert sich die Zeitzeugin an den Bericht ihrer Mutter. „Die haben sie so geschlagen. Ich hab so viel Blut aufgewischt“, erzählte diese entsetzt. Nachts sei ein LKW auf den Hof in der Haschkestraße gefahren, worin Familie Neufeld dann abtransportiert wurde. „Wir haben vier bis fünf Stunden Gespräche mit elf Zeitzeugen geführt“, erklärt Projektleiter Eric Schimann. „Aber die Schilderung der Zeitzeugin vom Verschwinden der Familie Neufeld ging mir am meisten unter die Haut.“

Aus den Gesprächen mit Neufelds Zeitgenossen erfuhren die Pfadfinder unter welchen Umständen die Juden ihr Leben in Wittichenau zu führen hatten. Die Nationalsozialisten verboten Stoffhändler Hermann Neufeld an den Haustüren der Wittichenauer seine Waren zu verkaufen. Für den dreifachen Vater wurde es damit fast unmöglich seine Familie zu ernähren. Tochter Klara bekam von ihrer Mutter nur eine trockene Semmel in die Schule mit. Die Zeitzeugen erinnerten sich an gemeinsames Fangenspielen ohne Vorbehalte voreinander. Die Schwestern Klara und Rosa besuchten sogar den Wittichenauer Turnverein. „Die Bevölkerung in Wittichenau hat, soweit ich weiß, keinen Abstand zu den Juden genommen“, erklärte den Pfadfindern ein Zeuge. Den katholischen Wittichenauern missfielen die Maßnahmen der NSDAP gegen die Juden. Eine Ortsgruppe der SA fand in der Bevölkerung wenig Sympathisanten. Die Wittichenauer seien gegenüber der Propaganda sehr passiv gewesen. „Das Leben war stark durch die Kirche geprägt. Vieles wurde nicht mitgemacht, weil es den allgemeinen kirchlichen Gesetzen nicht entsprach“, begründete der Zeitzeuge diese Haltung.
Dennoch fand das Projektteam Hinweise auf Schikanen. Auf dem Markt stand ab 1936/37 ein Schild, das die Juden verhöhnte. In der Hitlerjugend wurde den Kindern ein Spottlied gelehrt. Lehrer forderten ihre Schüler auf, die Juden bei Pausenspielen auszuschließen.

1937 musste die jüdische Familie Neufeld ihre Wohnung verlassen, weil diese für Juden „zu gut“ gewesen sei. Zuflucht fanden sie in einer Kammer in der Haschkestraße. Als die Nationalsozialisten im Oktober 1938 etwa 17 000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit auswiesen, traf diese sogenannte „Polenaktion“ auch die Wittichenauer Juden. Sie wurden nach Bentschen (Zbaszyn/Posen) deportiert. Weil ihnen die polnischen Behörden die Weiterreise ins Landesinnere Polens zunächst verwehrten, wurde die Familie in einem Auffanglager in Bentschen festgehalten. Bis zum Sommer 1939 könnten sie dann doch nach Galizien zurückgekehrt sein, wo die Eltern Neufeld herstammten. Nur wenige Jahre später wurden die Familienmitglieder Opfer der Judenvernichtung: Mutter Zipora und die Töchter Klara und Rut wurden 1942 im Vernichtungslager Be³æec vergast, Vater Hermann in Lemberg (Lwow) ermordet. Tochter Rosa Neufeld kam 1943 in Galizien ums Leben.

„In der Schule wird das Thema der Judenverfolgung sehr allgemein behandelt. Durch das Projekt habe ich Einblick in das konkrete Schicksal einer jüdischen Familie bekommen. Durch ihr Schicksal wurde deutlich, wie sich die rassistische Politik der Nazis auch auf das Leben von Wittichenauer Bürgern auswirkte“, erläutert Projektteilnehmerin Lisa Hufnagel. Besonders gefallen haben ihr die Exkursionen während des Projekts. In Dresden besuchten die Projektteilnehmer die Synagoge, in Berlin Holocaust-Mahnmal und Jüdisches Museum. „In den Ausstellungen dort bekamen wir noch einmal einen Blick fürs Ganze“, erzählt Lisa. „Führung und Ausstellung waren gut gestaltet und wir konnten viel über jüdische Religion, Kultur und Geschichte erfahren.“ Was die 17-Jährige durch das Geschichtsprojekt gelernt hat, wollte sie weitergeben. „Ich habe die Ergebnisse des Projekts in einem Vortrag vor meinem Geschichtskurs in der Schule vorgestellt und war überrascht, wie interessiert meine Mitschüler zugehört haben. Sie stellten Fragen, wollten Einzelheiten berichtet bekommen.“ Auch erste Vorträge zu den Recherchen vor den Wittichenauer Bürgern trafen auf reges Interesse. Bis Ende März zeigen die Pfadfinder ihre Recherche-Ergebnisse nun in einer Ausstellung in der Wittichenauer Pfarrkirche.

Mit den gesammelten Informationen zu den Wittichenauer Juden haben die Pfadfinder auch eine Internetseite gestaltet.
 http://stolpersteine.wittichenauer-pfadfinder.de



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Kommentare zum Artikel:

Helmut schrieb am

Hat mich sehr berührt. Einfach eine Schande was damals geschah unter dem verbrechererischen Regimes der Nationalsozialisten. Hoffentlich geschieht so etwas nie wieder.

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