Vor 50 Jahren: Schieber auf für Pumpe-Gas!


von Tageblatt-Redaktion

Dr. Herbert Richter ließ es sich gestern nicht nehmen, vielen ehemaligen Gaswerkern persönlich die Hand zu schütteln.
Dr. Herbert Richter ließ es sich gestern nicht nehmen, vielen ehemaligen Gaswerkern persönlich die Hand zu schütteln.

Von Jost Schmidtchen

Die Wiedersehensfreude im Suhler Klubhaus in Schwarze Pumpe war nach so vielen Jahren bewegend: Händeschütteln, Umarmungen, Küsschen. Auch einige Tränen der Rührung flossen. Die ehemalige Belegschaft von Tausenden Mitarbeitern war ein geschmiedetes Kollektiv – bis zuletzt. Das rief gestern in Schwarze Pumpe viele Emotionen und Erinnerungen hervor. 250 ehemalige Mitarbeiter waren der Einladung des Traditionsvereins „Glückauf Schwarze Pumpe “ zur Festveranstaltung gefolgt.Am 15. April 1964 öffnete Klaus Hinke den Gasverbindungsschieber zum Netz. Nach unzähligen Störungen und technischen Problemen konnte Ende 1965 eine Stadtgasproduktion von zwei Millionen Kubikmetern pro Tag erreicht werden. 1989 lagen die Tageshöchstleistungen bei 22 Millionen Kubikmeter.Versorgt wurden mit Stadtgas aus Schwarze Pumpe drei Millionen Kunden, 70 Prozent der DDR. In der deutschen Industriegeschichte ist das einmalig. Das Druckgaswerk war der wichtigste Betrieb im Verbundsystem des Gaskombinates.

Für die „Ehemaligen“ war besonders der Rückblick in die Anfangsjahre aufschlussreich. Aus dieser Zeit waren nur noch wenige Gaswerker im Suhler Klubhaus dabei. Dr. Herbert Richter, Generaldirektor von Juli 1966 bis Juni 1990, zeichnete den schweren Weg der Gasindustrie in der DDR nach. 1949 erzeugten 247 veraltete und verschlissene Stadtgaswerke 1,3 Millionen Kubikmeter Stadtgas. Schon vier Jahre später gab es im Ministerrat der DDR eine erste Konzeption zum Aufbau eines völlig neuen Verbundnetzes. Das Land besaß neben der Braunkohle als Rohstoff auch den Forschungsfundus in Freiberg.Ursprünglich sollten im späteren Gaskombinat nur BHT-Koks, Stadtgas und Elektroenergie erzeugt werden. 1958 wurde das „Hauptobjekt Vergasung“ gebildet. Schon 1961 wurde klar, dass für den späteren Betrieb des Druckgaswerkes die Fachkräfte fehlten. Diese Situation löste sich erst Mitte der 1970er Jahre. Viel wurde improvisiert: 1968 ließ Dr. Herbert Richter zwei Baracken im Wohnlager I räumen, sie wurden zu einem Kindergarten umfunktioniert, um den Frauen die Arbeit im Druckgaswerk zu ermöglichen.

Der politische Druck auf das neue Gaswerk war groß, viele Havarien, Brände, technische Störungen und sonstige Ausfälle verhinderten das Erreichen der projektierten Leistung. Auch personell wurden die Anlagen nicht beherrscht. Von 20 Generatoren waren bis Ende 1965 meist nur drei betriebsbereit. Entscheidende Veränderungen in den Führungsebenen, die Ankunft des neuen Generaldirektors und das Hinzuziehen von Spezialisten aus der Gaswirtschaft der DDR führten bis 1970 zur Stabilisierung der Druckvergasung. Zeitweilig waren über 100 Arbeitsgruppen beteiligt.Doch die technischen Maßnahmen, die die Stadtgasproduktion festigten, gingen allesamt zulasten der Umwelt: offene Teerabsatzbecken, die Deponien Terpe und Zerre, KM-Produkt (TÖF und Kohlestaub) mischen unter freiem Himmel. „Das Umweltproblem haben wir nie gelöst“, so gestern Dr. Herbert Richter. 1970 gelang damit aber die Verfünffachung der Stadtgaserzeugung. Zuletzt war mit 24 Generatoren das Druckgaswerk das größte in Europa.

1989 lag die Stadtgasproduktion in der DDR bei 26 Milliarden Kubikmeter. Davon kamen 7,5 Milliarden Kubikmeter aus Schwarze Pumpe, 7,3 Milliarden waren importiertes Erdgas und 11,2 Milliarden stammten aus eigener Erdgasförderung in der Altmark. Zuletzt lag der Wirkungsgrad der thermisch-chemischen Veredlung in Schwarze Pumpe bei 70 Prozent und die Stadtgaserzeugung mit 35 Prozent über den einst projektierten Leistungsparametern. Die Havarie der Rectisolanlage am Rosenmontag 1982 war der letzte große Rückschlag. Doch die Forscher im Gaswerk hinterließen bis heute Spuren ihres Wissens: So wird etwa die Technologie des „Spalters IV“ weltweit genutzt. Nur nicht hier.Hiergeblieben sind allerdings die Menschen, mit deren Aufbauwillen, Leistungs- und Lernbereitschaft dieses Druckgaswerk errichtet und betrieben wurde. Dr. Richter nannte sie alle: Arbeiter, Meister, Ingenieure, Instandhalter, Forscher, Sekretärinnen, Köchinnen und Reinemachefrauen. Ihnen allen wurde gestern anlässlich der Festveranstaltung der ersten Gasabgabe vor 50 Jahren noch einmal für ihre Lebensleistung gedankt. Das Druckgaswerk ist Geschichte. Ob die stoffliche Verwertung der Braunkohle auch Geschichte ist, wird sich erst 2050 nach der Energiewende zeigen.



Zurück

Einen Kommentar schreiben

Es werden nur jene Kommentare veröffentlicht, die unter Angabe von Vor- und Familienname und einer gültigen E-Mail-Adresse (für Rückfragen) abgegeben wurden.

Was ist die Summe aus 7 und 3?