Sonntagsspaziergang auf verschlungenen Pfaden


von Tageblatt-Redaktion

Zum Auftakt der Runde durch Hoyerswerda stellten einige Teilnehmer Carl Spitzwegs Gemälde Der Sonntagsspaziergang nach.
Zum Auftakt der Runde durch Hoyerswerda stellten einige Teilnehmer Carl Spitzwegs Gemälde Der Sonntagsspaziergang nach.

Von Anja Wallner

Es war schon eine merkwürdige Gesellschaft, die da am Sonntag mit entrücktem Blick über den Elsterdamm in Hoyerswerda flanierte – der Mann lässig vorneweg, die braven Damen mit Hüten, Schirmen und Taschen etwas steif dahinter, die Kinder schritten sittsam dazwischen. Die Szenerie ist dem Gemälde „Der Sonntagsspaziergang“ von Carl Spitzweg nachempfunden, das zu einer Zeit entstand, als der sonntägliche Spaziergang als kleine Flucht aus dem Alltag zur bürgerlichen Familientradition gehörte.
Die da am Sonntag durch die sommerliche Wiese liefen, waren eine Hand voll der rund 50 Teilnehmer eines von der KulturFabrik initiierten Spaziergangs durch Hoyerswerda mit dem Leipziger Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar (TAGEBLATT berichtete). Es ging dabei aber nicht wie zu Spitzwegs Zeiten biedermeierlich zu und auch nicht um Rituale, sondern vielmehr um die Entdeckung von Landschaft. In Hoyerswerda, einer Stadt im Wandel, entsteht durch den Rückbau von Wohnraum viel Landschaft. Und viel Landschaft ist auch schon vorher da gewesen, das wird manchem während dieses Spaziergangs im Zuge des KuFa-Jahresprojekts „Abschied und Ankunft“ aufgefallen sein. Denn: „Landschaft an sich gibt es nicht. Sie ist eine kulturelle Erfindung“, erklärte der Promenadologe Weisshaar. Das Meer, die Heide, selbst die Alpen oder auch vermeintliche „Dreckecken“ wie ausgekohlte Tagebau-Flächen gehören da hinzu. Landschaft verändere sich doppelt, so Bertram Weisshaar. Bäume würden größer, Bäche umgeleitet, Felder anders bestellt… Die landschaftlichen Bilder unserer Großeltern seien andere gewesen. Und so zog die mit Rucksäcken und Wanderschuhen ausgerüstete Truppe los, auf Landschaftspirsch unterwegs zwischen KulturFabrik-Zwischenbelegung und ihrem Ziel, der künftigen KuFa an der Braugasse. Um die eigentlich kaum 500 Meter Luftlinie dazwischen zu überwinden, brauchte es rund vier Stunden. Denn das Gehen auf verschlungenen Pfaden abseits eingetretener Wege gehörte zum Programm. Die Spaziergänger liefen über gemähtes Gras, feuchte Feldwege, trockene (Stadt-)Waldwege, über Wiesen, Brachen, Gehwege, querten Straßen und auch Straßen, die eigentlich nicht mehr existieren.
Mehrmals hat der studierte Landschaftsplaner Bertram Weisshaar Hoyerswerda besucht und die bis zuletzt geheime Route abgesteckt. Nicht wenige Teilnehmer schüttelten zwischendurch mit dem Kopf, entdeckten sie doch Ecken in der Stadt, die sie noch nie betreten hatten. Zum Beispiel die Kleingartensparte „An der Baumschule“. „Gärten“, erklärte Bertram Weisshaar, „sind Mikrolandschaften, die nur der lesen und erkennen kann, der sie gebaut hat.“ Eine Kleingartensiedlung sei demnach ein Sammelsurium dieser Mikrolandschaften, durch die man kaum spaziert, obwohl sie sich im öffentlichen Raum befinden. Weisshaar selbst ist einst vier Wochen lang von Leipzig nach Köln gewandert, war jeden Tag zu Gast in einer anderen Kleingartensiedlung, um dort besondere Pflanzen zu finden. Er lernte dabei unter anderem, dass auch Sauerampfer eine bedeutsame Pflanze sein kann – wenn sie vom elterlichen, ausgebombten Garten in Köln in die eigene Parzelle hinübergerettet wurde.
Bertram Weisshaar sieht sogar einen Garten in dem trostlosen Areal des ehemaligen Nahversorgers im WK IX. „Ein fantastischer Ort, ein Garten, den man noch nicht aufgedeckt hat.“ Nun, dem half er auf die Sprünge: Mit Hammer und Meißel wurden Löcher in die Fugenmasse zwischen den Betonplatten geklopft, Samen von Cosmea und anderen Blumen rieselten hinein. Ob man in einem Jahr einen geheimen Garten erkennen kann? Wen das nicht aufmunterte in der Tristesse des Umfelds – aus einer Ritze im Beton wuchs eine Johanniskraut-Pflanze, die ja wirksam sein soll gegen schlechte Stimmung…
Schlechte Stimmung kam bei manchem angesichts riesiger Brachflächen im WK X auf. Hier wächst zwar Grün – aber eben wild. Pläne und Ideen für all den abrissbedingten freien Platz gab und gibt es, festgehalten im Freiraumkonzept. Darin enthaltene Ideen anzupacken, das wurde am Sonntag noch einmal angemahnt. Apropos WX X: Als „Überbleibsel“ jenes fast verschwundenen Wohnkomplexes stellte sich Andrea Hartkopf den Spaziergängern vor. Sie öffnete am Sonntag extra ihre Kneipe „Zur Börse“, um durstige Wanderer zu erfrischen. Und was wohl keiner vermutet hätte: Die Grünfläche hinter dem Imbiss an der Herrmann-Straße eignete sich bestens dazu, die kürzlich ausgefallene Picknick-Wiese nachzuholen. Dort hatte die KuFa ein kleines Mittagsbuffet aufgebaut.
Ideen für weitere, ähnliche Touren durch die Stadt gibt es bereits. So ist Bertram Weisshaar fasziniert von den in Hoyerswerda verstreuten Garagenkomplexen. Sie mittels eines Spaziergangs aufzusuchen, das würde wohl eine Mammut-Tour bedeuten. Aber vielleicht per Fahrrad? Und angelehnt an die KuFa-Runde „Spur der Steine“ zu Kunstwerken im öffentlichen Raum schwebt dem Spaziergangsforscher eine Wanderung zu den Plätzen vor, wo die Skulpturen einst standen – vor dem Rückbau der sie umgebenden Häuser.



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