Wie aus amerikanischem Unfug ein sozialistischer Sport wurde


von Tageblatt-Redaktion

Start eines internationalen K-Wagen-Rennens 1965 - Hoyerswerda - Schulstrasse
Start eines internationalen K-Wagen-Rennens 1965 - Hoyerswerda - Schulstrasse

Kartsport in Ostdeutschland hat viel mit dem Motor(sport)club MC Hoyerswerda zu tun, denn der Vorläufer des MC Lohsa hat wesentlichen Anteil daran gehabt, diese Rennklasse in der DDR zu etablieren. Die offizielle Literatur darüber ist spärlich – aber die Vereins-Chronik der ersten fünf Jahre, 1962 bis 1966, die jetzt aus Privatbesitz „aufgetaucht“ ist, ist trotz aller Ungenauigkeiten und Auslassungen ein faszinierendes Zeitdokument, das obige Behauptung belegt.

Ob das die Gründungs-Anregung für den MC Hoyerswerda war? In dessen Chronik vornean liegt lose ein Programm vom 26. Juli 1953: „Autobahnspinne Dresden-Hellerau | 6. Meisterschaftslauf für Motorräder und Wagen“. Asse wie Ernst Degner bei den 125-ccm-Motorrädern und Heinz Melkus bei den Rennwagen finden sich in den Starterlisten neben technischen Wunderwerken – wie sie bei den 2000-ccm-Formel-II-Automobilen die EMW-Sechszylinder des Rennkollektivs Eisenach, damals die schnellsten Rennwagen Europas, darstell(t)en. Nur von einem ist dort nicht die Rede: von K-Wagen.

Journalismus, klassenbewusst

Aber wie sollte es auch! Die „Go-Karts“ wurden ja erst 1959 aus den USA nach Europa geholt, und die sozialistische Fachpresse, siehe das Reprint-Bild mit der blauen Ecke gleich rechts, war empört. Der „Illustrierte Motorsport“ vom 19. November 1959 pestete: „Ein neuer Unfug, den manche Leute fälschlicherweise als Motorsport bezeichnen, ist, von Amerika kommend, nunmehr in Europa eingetroffen. In England fand ein Rennen mit sogenannten «Go-Karts» statt. Sie werden mit einem Motor angetrieben, der eigentlich einem nützlicheren Zweck zugedacht war, nämlich einen Rasenmäher anzutreiben. Er bewegt diese Miniaturwagen mit einer Spitze von 80 km/h vorwärts. Die westliche Welt ist um eine Sensation reicher. Etwaige Opfer – und sie sind unvermeidlich – werden dann selbstverständlich auf das Konto des echten Motorsports verbucht ...“


Der Wind drehte sich

Doch der Wind drehte sich. „Echten Motorsport“, jedenfalls in den Wagenklassen der internationalen Leistungsspitze, gab es nämlich in der DDR so gut wie nicht mehr. Wegen „absoluter Serienferne“, so die offizielle Begründung, hatte EMW/ Wartburg, damals durchaus konkurrenzfähig, wenn nicht sogar überlegen westdeutschen, englischen und italienischen Renn-Equipes, die Beteiligung am Rennsport einstellen müssen und verlegte sich nunmehr auf Rallyes, von denen man sich mehr Aufschlüsse für die Entwicklung der Großserien und entsprechende Werbewirkung beim westlichen Zielpublikum versprach. Außerdem sparte man so für Forschung und Entwicklung auf einem unproduktiven Gebiet viel Geld, dessen es bedurft hätte, um im Rennsport international weiter vornedran zu sein. Und hinterherfahren wollte man ja nun auch nicht mit den Erzeugnissen aus Fabriken des überlegenen Gesellschaftssystems. Dann lieber ganz aussteigen, statt sich zu blamieren!


Ãœberraschende Erkenntnisse


Aber das Volk wollte Rennsport, nicht nur auf zwei Rädern. Und die Träume vom Selbst-Rennen-Fahren lebten in vielen nicht nur weiter, sondern neu auf. Da erschien der amerikanische Unfug plötzlich in ganz neuem Licht. Kleinrennwagen, K-Wagen, so geheißen zur deutlichen Unterscheidung vom westlichen Teufelswerk, konnten von privaten und in Betriebssportgemeinschaften organisierten Rennsportbegeisterten selbst mit geringem materiellem Einsatz gebaut, gefahren und unterhalten werden. Statt aufwendiger Permanent-Rennstrecken reichte es aus, ein städtisches Straßen-Karree abzusperren – und die Zuschauer waren noch näher dran als bei jeder anderen Rennserie. Mit anderen Worten: K-Wagen-Sport war DER Rennsport für die sich allseits entwickelnde sozialistische Persönlichkeit überhaupt!

Premiere: 23. September 1962

1961 gab’s nicht nur die erste DDR-Meisterschaft; es gab auch schon ausgewiesene Zentren der Sportart, unter anderem Hoyerswerda – und es gab auch das erste K-Wagen-Rennen hierorts. Am 23. September 1962 säumten trotz Dauerregens weit über 2 000 Hoyerswerdaer die Rennstrecke Stein-, Schul-, Pestalozzi- und Kurze Straße. 15 Hoyerswerdaer und 42 Gäste aus den Bezirken Cottbus und Dresden maßen sich in Vor-, Zwischen- und Endläufen. „Vom Regen durchnäßt und dreckverschmutzt wurden die Sportfreunde August Marusch und Claus Keilholz vom MC Hoyerswerda als 1. und 2. Sieger abgewinkt und überaus stürmisch gefeiert“, meldet die Chronik stolz.
Schon am 26. Mai 1963 gab’s wieder ein Rennen. 66 Aktive wollten gewinnen; es gewann ein Kamenzer: Norbert Kosian. Hoyerswerda blieb ein zweiter Platz durch Volker Häusler. „Leider waren unsere Fahrer vom Pech verfolgt“, heißt es in der Chronik. „Klaus Schurig wurde aus der Kurve getragen und musste ausscheiden. Manfred Schneider hatte Motorschaden.“ Doch schon drei Monate später ging der Stern von Klaus Schurig endgültig auf. Am 25. August 1963 wurde er auf seiner Heimbahn Dritter hinter dem Seriensieger und neuen Bezirksmeister Klaus-Dieter Habermann aus Forst und dem Lübbenauer Wolfgang Schorten – zwei ganz große Namen. Jahrs drauf, am 24. Mai 1964, holte sich Schurig den ersehnten ersten Heimsieg. 1965 war er Bezirksmeister. Im sechsten und letzten Saisonrennen, ausgetragen in Calau, kam er vor Champion Habermann ins Ziel. Bei Punktgleichheit in der Meisterschaft entschied das letzte Rennen über den Titel – und das hatte Schurig gewonnen, der sich im selben Jahr sogar DDR-, nein: Deutscher Meister nennen durfte. Sogar internationale Rennen fanden nun in Hoyerswerda statt – siehe Foto links. Es siegte: Klaus Schurig. Er wurde auch Bezirksmeister 1966; im DDR-Maßstab aber musste er Horst Winzler den Vortritt lassen: „Als Deutscher Meister hat man es sehr schwer und wird während des Rennens von allen belauert“, hatte Schurig erfahren müssen.

Mit serienmäßigen Wagen

Nicht nur Rennen gab’s beim MC. Die Chronik nennt Ausfahrten, Feiern, Aufbau einer Camping-Unterkunft am Knappensee, weihnachtlich-gesellschaftlichen Einsatz (siehe Foto unten) – und „Turniersport“: Geschicklichkeitsprüfungen, in der DDR mit Feuereifer als einzig sinnvoller und wahrer „Motorsport“ fürs Volk propagiert, weil „Sport mit serienmäßigen Wagen“. Am 8. Mai 1963 fand „auf dem Reitplatz der Neustadt Hoyerswerda ... am Tage der Befreiung ... bei herrlichem Frühlingswetter diese massensportliche Veranstaltung statt.“

In acht Schritten zum Sieg

Laut „Aachener Turnierordnung“ mussten die Teilnehmer folgende Übungen absolvieren: 1.) Wenden im Parkplatz in drei Zügen | 2.) Spurgasse | 3.) Halten vor einer Wand (rückwärts | 4.) Flaschengasse (rückwärts und vorwärts) mit | 5.) Halten vor einer Wand (rückwärts) 6.) Anhalten und Wiederanfahren am Berg | 7.) Parken in Lücke parallel zum Bordstein | 8.) Halten (mit dem rechten Vorderrad) auf einem Rechteck. Die Gesamtzeit wurde gestoppt und mit den Strafpunkten für Fehler zum Gesamtergebnis hochgerechnet. Ein solch spannender, übersichtlicher Wettbewerb (dem seine Nützlichkeit fürs Fahrzeugbeherrschenlernen keineswegs abgesprochen sei!) wird die Rennsportgemeinde zu unbeherrschbaren Beifallsstürmen getrieben haben, weswegen man von Wiederholungen absah. Schon in den Programmheften der K-Wagen-Rennen wurde ja betont, dass Blumen-Werfen auf die Strecke streng verboten war. Wie da wohl erst beim Turnier! Jedenfalls tauchen in der Chronik keine „Turniere“, „echter Motorsport“!, mehr auf. (Vielleicht belebt ja wer die Turniere heute wieder?)

Die Chronik schließt mit 1966. 1967, am 15. Oktober, eröffnete die permanente Bahn in Lohsa – das war der Auszug aus Hoyerswerda. 1968 hätte der Chronik ein zutiefst trauriges Kapitel hinzugefügt werden müssen: Klaus Schurig verunglückt in Budapest bei einem Lauf um den Pokal für Frieden und Freundschaft der sozialistischen Länder tödlich. Eines der vom „Illustrierten Motorsport“ 1959 voll Missgunst und Häme herbei orakelten „unvermeidlichen Opfer“.

P.S.: Gewiss wird es empörte Wortmeldungen geben, dies und jenes stimme so nicht; es sei alles ganz anders gewesen und überhaupt. Erwidert sei, dass die Chronik liebevoll belletristisch geführt ist, aber bei Daten, Statistiken und Bildunterschriften nicht die Genauigkeit und Vollständigkeit des Archivars pflegt. Wer es besser weiß, möge sich melden. Der Autor ist für jeden helfenden, belegbaren Hinweis dankbar.

# # #

Zum Tage

Uwe Jordan

... zum obigen Kart-Spezial

Unversiegbarer Quell – ohne Strom

Kann es in Zeiten von Internet, Wikipedia, Facebook und Google etwas geben, was ein mehr oder minder Geschickter nicht per Mausklick in Sekunden fände? Schlimmstenfalls in Stunden, falls man sich auf Umwegen ans Ziel tasten muss, weil das Gesuchte falsch im www steht. Wer kommt etwa darauf, dass der US-Verlag Kessinger bei der „Neuauflage“ der Frentzel’schen Chronik an der Übersetzung der Frakturschrift scheiterte; im Titel „Hoyerswerda“ zu „Hogerswerda“ ward?
Noch schwieriger wird das für denjenigen, der etwas zum Kartsport der frühen Jahre in Ostdeutschland, speziell zu Hoyerswerda/ Lohsa und den einstigen Helden, sucht. Terra incognita!
Um so mehr Herzklopfen, wenn dann plötzlich abseits aller elektronischen Allerwelts-Bequemlichkeiten aus Privatbesitz eine hand-/ maschinegeschriebene Chronik auftaucht, mit Zeichnungen, Fotografien und eingeklebten „Dokumenten“ wie Zeitungsausschnitten und Drucksachen jener Jahre.
Dieses Glücksgefühl möchten wir gerne mit Ihnen teilen – siehe Seite 10. Auch als Ermunterung, weiterhin das Vor-Elektronische, speziell das Geschriebene und Gedruckte, nicht gering zu schätzen. Es war eher da als Bit, Byte, Null und Eins und wird immer wieder für Überraschungen gut sein, die das „Netz“ nur erben, aber niemals gänzlich ersetzen kann.

mail Jordan.Uwe@dd-v.de



Zurück

Kommentare zum Artikel:

Rainer Patzig schrieb am

Hallo Uwe, vielen Dank für deine Texte. Ich bin leider nie in Lohsa gestartet, war aber im Raum Dresden von 1966 bis 1970 aktiv. MC Lockwitzgrund war der Club. G. Liebert und Reismann waren die bekanntesten. Gruß Rainer

Ulrich Wackes schrieb am

Hallo Uwe, ich war von 1963 bis 1969 aktiver K-Wagen Fahrer beim MC Suhl. War sechsmaliger Bezirksmeister von Suhl, Spartakiademeister 1965 in Magdeburg und 1966 DDR-Jugendmeister in Leipzig.
Meine Klasse war die 50 ccm und die letzten zwei Jahre zusätzlich noch die 125 ccm.
Bin nach der Armeezeit 1971 nochmal ein paar Rennen gefahren, aber nicht mehr so erfolgreich.
Durch das Studium konnte ich den aktiven K-Wagen-Sport nicht mehr betreiben.

Viele Grüße von mir

Ulrich

Einen Kommentar schreiben

Es werden nur jene Kommentare veröffentlicht, die unter Angabe von Vor- und Familienname und einer gültigen E-Mail-Adresse (für Rückfragen) abgegeben wurden.

Bitte rechnen Sie 1 plus 8.