Plötzlich wurden Zwangs-Umzüge nötig

Mit einem Irrtum fing die Schrumpfung der Hoyerswerdaer Neustadt an. „Als wir zur Wohnungsgenossenschaft eingeladen wurden, dachten wir, es werde um Umbau mit zuschnittsgeänderten Wohnungen gehen“, erinnert sich Bärbel Rinka. Seit 1983 lebte sie im Hoyerswerdaer WK VIII. Als sie hinzog, trug ihre Straße den Namen des beim Grenzdienst ermordeten DDR-Soldaten Siegfried Widera. Als sie und ihr Mann Werner unter den ersten Hoyerswerdaern waren, die wegen Abrisses eines Neubaublocks umziehen mussten, verließen sie dieselbe Straße, die aber inzwischen nach dem vom Tagebau Bärwalde gefressenen Ort Schöpsdorf hieß. Rinkas Fünfgeschosser mit den Nummern 8 bis 12, in dem es insgesamt 60 Wohnungen gab, war der erste Wohnblock der Neustadt, der komplett dem Bagger wich. Vor zehn Jahren, am 23. Mai 2000 begann das, was seither im Amtsdeutsch „Rückbau“ heißt.
Das Haus war 33 Jahre alt und man riss es im Jahr 2000 nicht deshalb ab, weil es sich nicht hätte sanieren lassen. Nur: Hoyerswerda hatte in den zehn Jahren davor knapp 15 000 Einwohner verloren. Zahlreiche Wohnungen standen leer, zehn davon im Block der Rinkas. Man hatte zuvor ein wenig experimentiert, zum Beispiel Wohnungszuschnitte verändert oder am Lipezker Platz ein Hochhaus eingekürzt. Doch solche Maßnahmen reichten nicht mehr aus, um den Leerstand zu beseitigen. Wie plötzlich die Erkenntnisse gekommen sein müssen, kann man an den Schilderungen von Familie Rinka erkennen. „Noch ein Jahr vorher waren Wasser- und Gasleitungen erneuert worden“, sagen sie über ihr Haus, das wegen eines zusätzlich aufgesetzten Balkon-Elements allgemein ins Auge fiel.
„Das war der Hammer. Wir haben uns alle geärgert und waren fassungslos“, erzählt Bärbel Rinka über die erste Mieterversammlung in Hoyerswerdas Neustadt, in der es um den Abriss eines Wohnblockes ging. Inzwischen sind hier insgesamt gut und gern 130 Häuser dem Bagger zum Opfer gefallen. Mehr als 7 500 Wohnungen verschwanden seit jenem 23. Mai 2000. Dazu kommen noch einmal 500, die schon seit 1993 in der Altstadt abgerissen wurden. Ihre Wohnfläche, nämlich 49 500 Quadratmeter, entspricht der Größe eines kompletten Wohnkomplexes der Neustadt mitsamt Straßen, Spielplätzen und Grünanlagen. Und ein Ende ist bisher nicht in Sicht. Denn das gültige Stadtentwicklungskonzept sieht bis zum Jahr 2020 den Abriss von 9 500 Wohnungen vor. Bis dahin haben Bagger also noch 1 500 Appartements zu beseitigen. Es gibt dagegen kaum mehr Widerstand, allerdings eine Menge Skepsis. „Es kann doch nicht sein, dass nur abgerissen wird. Da müssen sich doch die gebildeten Menschen etwas einfallen lassen, wie man Arbeit hierher bringen kann“, meint Bärbel Rinka. Ihr fallen zehn Jahre nach dem Auszug aus der Schöpsdorfer Straße noch immer recht schnell die Namen ehemaliger Nachbarn ein. Sie wohnen jetzt in der Stauffenbergstraße, am Elsterbogen oder im Hochhaus Schöpsdofer Straße. Von der LebensRäume-Genossenschaft ist zu erfahren, dass von jenen 50 Mietparteien, die damals ausziehen mussten, noch heute gut die Hälfte Genossenschafter sind. Doch laut Bärbel und Werner Rinka hat sich etwas geändert. In einer richtigen Hausgemeinschaft mit gemeinsamem Herbst- und Frühjahrsputz oder Hausfesten, so wie im WK VIII, haben sie seither nicht mehr gelebt. „Wir grüßen, unterhalten und vertragen uns, aber es ist anders“, sagt Bärbel Rinka über ihre Nachbarn in der Gagarinstraße im WK VI.
Ihr Appartement ist die dritte Wohnung, die sie und ihr Mann seit dem Jahr 2000 bewohnen. Bei der ersten in der Sputnikstraße, erzählen sie, sei die Miete recht hoch gewesen und über die zweite in der Dürerstraße im WK X sagt Werner Rinka lakonisch: „Die steht auch schon nicht mehr.“ Rinkas sind im Kosmonautenviertel zufrieden. Die Wohnung passt vom Zuschnitt. Die Wohngegend ist verhältnismäßig ruhig und sehr grün. Die Gassi-Runden mit Shizu-Malteser-Mischling Biene führen mühelos bis ins benachbarte Zeißig. Nur sagt Werner Rinka: „Na, hier wird ja wohl auch irgendwann abgerissen werden.“
Man wird ihm nicht widersprechen können. Das Stadtentwicklungskonzept sagt über die WK IV bis VII: „Es erfolgt weiterer Rückbau ... Er erfasst die Randbereiche und ist Teil der Gesamtkonzeption der Stadt - Rückbau von außen nach innen. Die Kernbereiche der WK IV bis VII bleiben erhalten und schmelzen zu einem relativ kompakten Gefüge zusammen.“ Festzuhalten ist, dass es kaum eine Stelle in der Neustadt gibt, die noch mehr Rand wäre als die Gagarinstraße. Offen ist eigentlich nur, wann Familie Rinkas heutige Bleibe fällt.
Wohnkomplexe I bis III und das Stadtzentrum sind Schwerpunkt der Entwicklung
Baudezernent Dietmar Wolf bilanziert zehn Jahre der Neustadt-Verkleinerung.
Fragen: Mirko KolodziejHerr Wolf, ich soll Sie von Familie Rinka grüßen!
Familie Rinka? Wer ist denn das?
Familie Rinka gehört zu jenen, die vor zehn Jahren aus dem ersten Abrissblock der Neustadt ausziehen mussten. Sie möchte gern wissen, warum hier gut erhaltene und bewohnte Häuser abgerissen werden.
Wenn, wie hier, die Bevölkerung weniger wird, muss auch die Zahl der Wohnungen sinken. Orientiert an Bevölkerungsprognosen überlegen die Stadt und die Wohnungsunternehmen, wie viel Wohnraum künftig nötig ist. Seit 2003 verfolgen wir das Ziel, den Rückbau „von außen nach innen“ zu betreiben. Da mag es passieren, dass Blöcke zurückgebaut werden, die noch gut sind. Es wird auch künftig nicht ausbleiben, dass teilsanierte Bestände vom Markt genommen werden müssen, weil komplett unsanierte Häuser zwanzig Jahre nach der Wende kaum mehr existieren.Was war in Sachen Abriss bisher der größte Fehler?
Uns wird immer der Abriss im Stadtzentrum vorgeworfen. Man muss aber zumindest bei der Stadtpromenade sagen, dass es Erweiterungsabsichten für das Lausitz-Center gab. Außerdem gab es etliche Leerstände. Die Wohnsituation mit dem Innenhof war nicht die beste. Vielleicht würde man das heute trotzdem anders lösen, etwa nur Segmente heraustrennen. Generell bin ich sicher, dass Entscheidungen immer in bester Absicht und mit dem Wissen um die damaligen Umstände getroffen wurden.Anfangs gab es aber auch kein erkennbares Konzept ...
Heute ist das leicht gesagt. Man hat damals nicht mit dieser Dramatik des Bevölkerungsrückganges gerechnet. Auch darum gab es zunächst die Idee von der „Entdichtung“. Etwa im WK IV hat man die so genannten Augenblöcke weggenommen und so schöne Wohnhöfe geschaffen. Man dachte, man könnte die Stadt so auflockern, ohne Strukturen aufzugeben. Erst später hat man erkannt, dass der Bevölkerungsrückgang uns so stark trifft, dass dieser Weg nicht weit hilft.Manche, die wegen Abrisses ausziehen müssen, verlassen die Stadt. Gefällt Ihnen das?
Nein. Gemeinsam mit den Wohnungsunternehmen haben wir voriges Jahr feststellen müssen, dass das Tempo im Rückbau gedrosselt werden muss. Man kann es nicht aufrechterhalten, wenn keine Wohnungen zum Ausgleich da sind. Das ist aber eine Gratwanderung, weil nicht geklärt ist, ob die Altschulden-Tilgung weitergeht. Derzeit werden Altschulden aus DDR-Zeiten bei Abbruch eines Hauses automatisch getilgt, nach jetzigem Stand aber nur bis 2012/13. Für die Unternehmen ist es finanziell wichtig, die zur Entschuldung gemeldeten Wohnungen auch zu schaffen. Das geht aber nur im Einklang mit der Nachfrage nach äquivalentem Wohnraum für vom Abriss betroffene Mieter eines Hauses.Ist die Angst berechtigt, dass eines Tages von der Neustadt nichts mehr übrig sein wird?
Das ist offen. Bis 2020 rechnen wir mit 30 000 Hoyerswerdaern. In der Altstadt leben 9 000 Menschen. Abzüglich der Ortsteile bleiben für die Neustadt 15 000 Bewohner. Wir erwarten für den Herbst eine neue Prognose, die bis 2030 blickt. Bei allem Optimismus glaube ich nicht, dass wir langfristig mehr als 30 000 sein werden. Das ist rein biologisch nicht drin. Die Geburtenrate in der Stadt liegt bei 1,2 Kindern. Um eine Generation zu erhalten, müsste man 2,2 Kinder haben. Auch deshalb ist die Überlegung, sich in der Entwicklung der Neustadt eher auf die WK I bis III und das Stadtzentrum zu konzentrieren, ohne die anderen Wohnkomplexe zu vernachlässigen. Auch dort muss es bis zum geordneten Rückbau ein attraktives Leben geben. Aber die Neustadt wird kleiner werden.
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