Schicksale machen Geschichte lebendig


von Tageblatt-Redaktion

In einer Dokumentation stellten Harry Wobst vom Stadtmuseum und die BdV-Stadtverbandsvorsitzende Gisela Lossack den Gymnasiasten das Lager Elsterhorst vor.  Fotos: Gernot Menzel
In einer Dokumentation stellten Harry Wobst vom Stadtmuseum und die BdV-Stadtverbandsvorsitzende Gisela Lossack den Gymnasiasten das Lager Elsterhorst vor. Fotos: Gernot Menzel

Von Constanze Knappe

Was ist Heimat? Emma Thomas, Marie Bieger und Patricia Kaiser sind sich schnell einig. Familie, Freunde, das gewohnte Umfeld. Der Ort, wo man sich sicher und geborgen fühlt und wohin man jederzeit zurückkommen kann, zählen die 16-jährigen Gymnasiastinnen auf. Diesen Ort von einem Tag auf den anderen oder gar von einer Stunde auf die nächste zu verlieren, das können sich die Zehntklässlerinnen des Johanneums in Hoyerswerda nicht vorstellen. Zwei Generationen vor ihnen war dies bittere Realität. Allerdings werden die Menschen, die das am eigenen Leibe erfahren haben, immer weniger.

Die Kartei des Stadtverbandes Hoyerswerda vom Bund der Vertriebenen (BdV) weist als aktuellste Mitgliedsnummer die 940 aus, jedoch zählt der Verband nur noch 65 Mitglieder. Umso wichtiger sei es, Senioren mit jungen Leuten zusammenzubringen, damit das Wissen über die Erlebnisse nicht verloren geht, erklärt Gisela Lossack, die Vorsitzende des Stadtverbands. Der hatte gestern 60 Schüler aus allen drei Hoyerswerdaer Gymnasien zu einem Projekttag eingeladen.

Zunächst traf man sich in der Museumsbaracke des einstigen Lagers Elsterhorst auf dem Gelände der Landesfeuerwehr- und Katastrophenschutzschule in Nardt. In dem 1938 erbauten Lager, dessen Hauptgelände sich auf dem heutigen Segelflugplatz befand, waren französische Offiziere, später sowjetische Kriegsgefangene, dann deutsche Kriegsgefangene und zuletzt Vertriebene untergebracht. Ab Januar 1946 war es dem Amt für Umsiedler in Hoyerswerda unterstellt. 15 Millionen Deutsche mussten als Folge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verlassen, heißt es in einer vom Stadtmuseum Hoyerswerda erarbeiteten Dokumentation. Diese wie die Führung durch die Ausstellung glichen einer Geschichtsstunde, die mehr oder weniger interessiert aufgenommen wurde.

Richtig spannend aber wurde es, als die Zeitzeugen – allesamt an die 80 Jahre und älter – von ihren persönlichen Schicksalen erzählten. Wie Manfred Jach, der 1947 mit seiner Familie als Umsiedler aus Pommern in Elsterhorst gestrandet war. An die Zeit im Lager habe er keine guten Erinnerungen. „Wir hatten nicht mal Topf oder Löffel, haben Sauerampfer und Gras gefressen“, beschreibt er die Lage drastisch. Aus dem Flüchtlingskind wurde später der Direktor der Brikettfabrik Knappenrode. Ebenfalls aus eigenem Erleben kennt Gisela Bansner das Lager.

Als 12-Jährige kam sie 1946 hier an, war vorher in zwei anderen Lagern und unterwegs von der Mutter getrennt worden. Wie es ihr in jenem Februar erging, als just an ihrem Geburtstag ihre Mutter im Lager stand, um sie abzuholen, das hat die Schüler sehr beeindruckt. Ebenso die Geschichte von Annemarie Süßmuth, die nicht in Elsterhorst war, dafür in einem Lager in Mecklenburg-Vorpommern. Man habe auf blankem Stroh geschlafen. Ihre Mutter erkrankte im Lager. Dass sie verstorben war, erfuhren sie und ihre vier kleinen Geschwister erst Wochen später.

Während Annemarie Süßmuth davon erzählte, bebte ihre Stimme, rannen ihr Tränen übers Gesicht. Im Raum wurde es ganz still und einige Schüler mussten sogar einen Kloß im Hals herunterschlucken. „Es ist furchtbar, wenn man seine Heimat verliert“, so Annemarie Süßmuth. Sie könne nachfühlen, wie es den Flüchtlingen geht, die jetzt in Hoyerswerda leben. Dass wegen der Braunkohle Menschen ihre Dörfer verlassen müssen, sei auch ein Verlust von Heimat, erklärte Gisela Bansner. Es sei aber kein Vergleich zur Vertreibung nach dem Krieg. Während die Menschen hier alles mitnehmen könnten, sei ihr als Kind damals nicht mal ihre Puppe geblieben. Alle Zeitzeugen hoffen, dass die Schüler in der Runde so etwas nie erleben müssen.

Zum vierten Mal organisierte der BdV-Stadtverband diese Zeitzeugenbegegnung. Die endete gestern aber nicht in Nardt. Mit dem Bus ging es an und mit der SeaBreeze auf den Geierswalder See. Das Boot war einst Beiboot der Wilhelm Gustloff. Jenes Passagierschiffes, welches am 30. Januar 1945 durch sowjetische Torpedos versenkt wurde. Dabei starben 10 000 Menschen in der Ostsee. Beinahe auch Brigitte Wilfert, die aus Marienburg (Malbork/PL) in Ostpreußen stammt. Weil ihr Onkel im Reparaturwerk arbeitete, bekam die Familie eine Kabine auf dem Schiff. Doch bei 20 Grad minus schafften es Brigitte und ihre Mutter nicht rechtzeitig an Bord. Zum Glück, wie sich später zeigte.

Die Erlebnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit prägten sie. „Wenn man als Neunjährige tote Kinder am Straßenrand sieht, das vergisst man sein Leben nicht“, so Brigitte Wilfert. Je älter sie werde, umso stärker kommen die Erinnerungen an Krieg und Flucht zurück. Auch 70 Jahre nach der Vertreibung.

Als „lohnenswert“ bezeichnete Dana Zinke, die im gesellschaftswissenschaftlichen Profil am Lessing-Gymnasium unterrichtet, den Projekttag. Sie kam mit der Erwartung, dass die Schüler einen Eindruck kriegen, was es bedeutet, Heimat zu verlieren und eine neue zu finden. Wie ihre Schüler war sie von den Schilderungen der Zeitzeugen sehr betroffen. Da bestehe Redebedarf, um das Gehörte zu verarbeiten. Ebenfalls sichtlich berührt war Anna-Lena Stephan (15) vom Lessing-Gymnasium. „Es ist wichtig, dass wir wissen, wie es früher war. Wenn wir uns nicht dafür interessieren, wird die Geschichte vergessen“, sagte sie. Dass viele junge Leute Ballerspiele am Computer spielen, hält sie für sehr bedenklich. „Die machen sich gar keine Gedanken darüber, was ein Krieg wirklich bedeutet.“

Zum Aufstand vom 17. Juni 1953, der sich gestern jährte, hatte die Veranstaltung keinen Bezug. Das Datum sei Zufall. Gisela Lossack freute sich über das große Interesse der Schüler. Die wiederum fanden die Bootstour cool. Zum großen Teil finanziert wurde der Projekttag mit Fördermitteln des Sächsischen Innenministeriums. Gut angelegtes Geld, findet die BdV-Stadtvorsitzende. So ein fühlbares Erlebnis merke sich eben einfach besser, sagte sie.



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Kommentare zum Artikel:

Rosemarie Wagner schrieb am

Wir kamen 1946, 14 Tage vor Weihnachten aus Schlesien mit NICHTS im "Erzgebirge " an. Mit unserem 8ojährg. Großvater ( welcher bald darauf an Heimweh verstarb ),meiner Mutter und 6 Geschwistern. In Schlesien hatte wir 1943 eben ein neues EH bezogen. Das schöne Haus mit der neuen Einrichtung galt es dann, 1945 in Minuten zu verlassen. Von den Ereignissen hab ich meine Mutter und ältere Schwester immer wieder gebeten, zu erzählen. Damals hab ich es nicht so verstanden, aber als schlimm empfunden kein Bett, keine Puppe, kein Essen usw. mehr zu haben. Der Herr Baron aus unserem Dorf, und wo meine Mutter beschäftigt war, hat uns gebeten, mit ihm und 14 Tage vorher zu fliehen. Was wir leider nicht getan haben, der Großvater hat gar so sehr geweint....was dann kam war aber auch NUR zum weinen ! Auch wenn ich Kind war, bin und bleibe ich Schlesier. Wir waren auch schon wieder in unserer Heimat, und in unserem Haus wohnen uns unbekannte Menschen. Unsere Familie, meine Mutter und Geschwister ruhen ebenso in fremder Erde, nicht in Schlesien.

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