Heimat ist ein bisschen wie Sterben


von Tageblatt-Redaktion

Altstadt, Blick in die Senftenberger Straße: Geht die Sonne unter – oder geht die Hoffnung auf?
Altstadt, Blick in die Senftenberger Straße: Geht die Sonne unter – oder geht die Hoffnung auf?


WANN SIND SIE AUS HOYERSWERDA WEGGEGANGEN?

Elisabeth Mickan: Bis zum Jahre 2006 war Hoyerswerda meine Heimatstadt.
René Rosin: Ich habe von 1971 bis Anfang 1997 in Hoyerswerda gelebt, also von meinem zweiten bis zu meinem 28. Lebensjahr. Dann bin ich über die Stationen Heidelberg und Stuttgart nun in München gelandet. Der Grund meines Weggangs nach Heidelberg? Die Liebe! Keine wirtschaftliche Not wegen Arbeitslosigkeit, wie bei so vielen, die damals (und heute?) Hoyerswerda verließen. Im Gegenteil: Wirtschaftlich war mein Umzug für einige Jahre eher ein „Verlustgeschäft“ für mich. Es wäre wohl korrekter zu sagen: Der Grund meines Weggangs – also eine Liebe – war im Eigentlichen eher ein letzter Anstoß, das letzte, noch fehlende Teilchen, das mein damaliges Bild von Hoyerswerda, bestehend aus Desillusionierung, stetem Abstieg der Stadt und völliger Perspektivlosigkeit in vielen Bereichen des persönlichen Erlebens vollständig machte. Durch dieses letzte Teilchen wurde mir klar, was mir alles in Hoyerswerda fehlt und dass man das in Hoyerswerda nie kennenlernen wird. Spätestens seit 1994 war in mir der Wunsch nach einem Orts- und vor allem Perspektivwechsel immer größer geworden. Damals „träumte“ ich aber nicht von Heidelberg, Stuttgart oder München, sondern von Leipzig.
Maik Radke: Bis zu meinem 25. Lebensjahr war ich Hoyerswerdaer. Im September 1990 sind wir dann nach Holland umgezogen, der Grund war ganz einfach die Arbeit. In Schwarze Pumpe, meiner letzten Arbeitsstelle, kriegten wir schon zu hören, dass „welche entlassen werden“. Da ich aber nicht der Letzte sein wollte, haben wir dann doch unsere Koffer gepackt. Also ab nach Holland.
Gabriele Kiunke: Bis zu meinem 42. Lebensjahr habe ich in Hoyerswerda gelebt. Verlassen habe ich meine Heimat im Februar 2009 und bin seit März 2009 in Bayern wohnhaft, genauer gesagt in Bamberg. Der Grund dafür: Ich habe vor zwei Jahren meinen Partner kennen und lieben gelernt, unterdessen sind wir glücklich verheiratet.
Sven Dokter: Ich wurde am 19. Juli 1974 in Hoyerswerda geboren und lebte bis zum Frühjahr 1991 mit meinen Eltern und meiner Schwester in der Albert-Schweitzer-Straße 32. Wir sind nach der Wende sofort weg, weil meine Eltern schon immer, auch zu Ost-Zeiten, die Bestrebung hatten, in den Westen zu gehen. Und plötzlich war es möglich. Wir hatten schon immer viel Westverwandtschaft.
Steffi Koßmehl: Ich bin hier geboren und musste aber wegen fehlender Arbeit nach Stuttgart ziehen. Das war im Herbst 2007. Familie und Freunde musste ich schweren Herzens zurücklassen.

HABEN SIE IN DER FREMDE DAS GLÃœCK GEFUNDEN?

Elisabeth Mickan: Ich bin nach Langnau in die Schweiz umgezogen, um ruhiger zu arbeiten, besser Geld zu verdienen und das Leben genießen zu können. Ich arbeite jetzt viel ruhiger, verdiene sehr gut und kann mir ohne Weiteres Wünsche erfüllen. Es hat sich also definitiv gelohnt für mich!
René Rosin: Ich bin relativ wunschlos, was konkrete Wünsche anbelangt, und hoffnungsfrei – aus Hoyerswerda weggegangen. Ich wollte nur weg sein. (Fast) alles schien mir besser zu sein als Hoyerswerda. Was sich im Nachhinein – aber erst Jahre später – für mich auch als richtig erwies. Denn ohne meinen Weggang aus Hoyerswerda hätte ich es wohl irgendwie verpasst, mich, zum Beispiel, doch noch einmal an der Universität einzuschreiben. Ich hätte nicht so viele berufliche Möglichkeiten gehabt. Ich hätte nie diesen intensiven Kontakt zu Kunst und Kultur bekommen. Ich hätte nie so viele Menschen mit so verschiedener Herkunft kennen gelernt. Nach 14 Jahren Trennung von Hoyerswerda bin ich überzeugt: Meine jetzige persönliche Lebenssituation ist besser als sie es wäre, lebte ich noch in Hoyerswerda.
Maik Radke: Wir hatten es, wenn ich so zurück schaue, gar nicht so schwer. Seit dem ersten Tage hatte ich eine Festanstellung, was doch sehr wichtig war. Viele sagen heute zu uns, dass wir sehr mutig waren, in ein anderes Land zu gehen, wo natürlich auch noch eine andere Sprache gesprochen wird. Das sehe ich heute noch nicht so. Es ist nur wichtig, dass man es selber richtig will und auch 100 Prozent gibt. Und ob sich die deine Wünsche und Hoffnungen erfüllt haben? Da kann ich eigentlich nur „ja“ sagen. Klar, um seine Wünsche zu erfüllen, muss man auch in Holland ordentlich arbeiten. Das heißt, Arbeitstage bis zu 16 Stunden, aber dann kann man sich auch ein eigenes Haus, Reisen ans andere Ende der Welt und ein Hobby leisten.
Gabriele Kiunke: Bamberg ist sehr schön. Die sehenswerte Altstadt besitzt den größten unversehrt erhaltenen historischen Stadtkern in Deutschland und ist seit 1993 als Weltkulturerbe in die Liste der Unesco eingetragen. Darüber hinaus ist Bamberg überregional bekannt für seine vielfältige und eigenständige Biertradition. Meine Wünsche hinsichtlich eines Jobs haben sich auch erfüllt. Nach ein paar ungewollten Monaten der Arbeitslosigkeit hatte ich in Bamberg stundenweise eine Beschäftigung gefunden. Seit November 2009 habe ich nun einen Halbtags-Job, dieser ist leider außerhalb von Bamberg, aber was für mich wichtig ist: Ich habe wieder eine Aufgabe und werde gebraucht. Nun gehöre ich eben zu den vielen Pendlern. Ein paar Wünsche habe ich noch. Mal sehen, vielleicht gehen sie noch in Erfüllung.
Sven Dokter: Wünsche und Hoffnungen? Was weiß man schon als 17-Jähriger darüber ... Ich bin einfach mit, weil es meine Eltern so gewollt haben. Und ich muss sagen, im Nachhinein gesehen war es die beste Entscheidung meiner Eltern für unser Leben. Uns geht es familiär, finanziell und gesellschaftlich bestens. Wir leben seit fast 20 Jahren in Bayern. Ich habe hier meine Frau kennen gelernt, einen sehr gut bezahlten Job im Außendienst, habe drei wundervolle Kinder, wir haben ein Einfamilienhaus – kurz gesagt: Uns geht es super gut!
Steffi Koßmehl: Ich hab mich gut eingelebt, das kann ich schon sagen. Aber die Sehnsucht nach Hoyerswerda, nach meinem Zuhause, die bleibt.

WAS MÖGEN SIE AN UND WAS SOLLTE IN „HOY“ SICH ÄNDERN?

Elisabeth Mickan: Ich mag die reichlich vorhandenen Senioren, Blitzer und Beamten in der Stadt nicht. Mir gefällt aber die Altstadt sehr. Dort steckt noch viel Potenzial drin. Für eine wesentliche Veränderung bräuchte die Stadt viel Geld, welches sie aber nicht hat.
René Rosin: Dazu habe ich ja schon einiges gesagt. Was ich mag: Dass Hoyerswerda in mir den Wunsch geweckt hat, wegzugehen, und ich dadurch vieles Neues entdecken konnte. Und dass mich Hoyerswerda durch „Liebesentzug“ und „harte Erziehung“ gut darauf vorbereitet hat. Und dass ich dabei trotzdem nie ein Gefühl der Verbundenheit zu Hoyerswerda verloren habe – auch, wenn ich Hoyerswerda nicht als meine Heimat bezeichnen möchte und die Stadt es mir und wahrscheinlich auch vielen anderen nie leicht gemacht hat, sich in ihr wohlfühlen zu können. Hoyerswerda war ja in meiner Kindheit und Jugend – also in einer sehr prägenden Zeit – in den 70er und 80er-Jahren keine schöne Stadt; ist es größtenteils auch heute nicht. Und das meine ich nicht nur architektonisch. Was mir immer gefehlt hat (und ich selbst bin in diesem Punkt ja auch nicht unschuldig): Man trifft auf kein verbreitetes Bekenntnis zu seiner Stadt, so wie ich das zum Beispiel in Leipzig kennen gelernt habe. Es fehlt der Bürgerstolz. Man lebt zwar gern in dieser Stadt. Aber die Stadt selbst liebt man nicht. Ich hatte immer den Eindruck, dass die Stadt nicht um ihrer selbst willen gemocht oder geliebt wird, sondern wegen ihrer angeblichen Möglichkeiten: in den 50er- und 60er-Jahren Sehnsuchts-Ort junger Menschen, um aus dem bedrückenden Mief des kaputten Nachkriegs-Ostdeutschlands herauszukommen (was damals wahrscheinlich ein sehr verständlicher Antrieb war), billiger Wohnraum, „praktische“, berufsalltagstaugliche Selbstorganisation und später „Shopping-Ober-Zentrum“ für Schnäppchenjäger oder Leute, denen der Weg zu Polens Ramschmärkten zu weit war. Und trotzdem bin ich nicht verbittert auf Hoyerswerda, im Gegenteil. Hoyerswerda stärkt, bestärkt einen, wenn man es etwas anders und woanders versuchen will. Dafür sage ich Hoyerswerda „Danke“.
Maik Radke: Am besten hat mir doch immer noch das Umland gefallen. Besonders, wenn man an die neue Seenplatte denkt. Ich glaube, dass sie auch der große Hoffnungsträger der Region ist. Aber die Neustadt: WK VIII, IX und X –- das sieht schon recht traurig aus ... Nur noch vereinzelte Häuser. Besonders gut kann man das bei einen Rundflug sehen, und das ist schon erschreckend. Ich selber, könnte mir es nicht vorstellen, dort zu wohnen. Was mir sonst noch so in Hoywoy fehlt, sind Cafés, wo man auch mal gemütlich sitzen und quatschen kann.
Gabriele Kiunke: Ich mag an Hoyerswerda die Altstadt. Besonders freue ich mich, dass der Kindergarten und die Schule, die ich einst besucht hatte, noch standhaft geblieben sind und nicht der Abrissbirne weichen mussten. Schön finde ich, dass an Feiertagen wie Pfingsten und Ostern Altstadttouren stattfinden, da man etliche Bekannte von früher wieder treffen kann.Was mich stört, sind diese zerpflückten Stadtteile, weil überall ein wenig abgerissen wurde, anstatt einen ganzen Komplex abzureißen. Es bleibt nun mal nicht aus, wenn die Einwohnerzahl sinkt, dass Häuser weichen müssen, aber hätte man das nicht anders lösen können? Was sich in Hoyerswerda ändern sollte? Großartig ändern kann man nichts. Was fehlt, ist ein großer Arbeitgeber.
Sven Dokter: HY ist meine Heimatstadt. Jedes Mal, wenn ich beruflich in der Gegend bin (und das bin ich oft), nutze ich die Gelegenheit zu einem Kurzbesuch bei meiner Oma. Etwas Sentimentalität kommt jedes Mal auf. Aber mittlerweile habe ich genauso viel Lebenszeit in Bayern verbracht wie in Hoywoy.
Steffi Koßmehl: Ich kenne hier viele Leute, das ist gut. Die Stadt ist überschaubar und die Altstadt gefällt mir sehr gut. Dem ständigen Abriss von Häusern sehe ich sehr negativ entgegen.

WÃœRDEN SIE EINST ZURÃœCK-
KEHREN NACH HOYERSWERDA?

Elisabeth Mickan: Keine Retour nach HY. Das kann ich, zumindest momentan, ganz sicher sagen.
René Rosin: Warum sollte ich zurückkommen? Wegen der Liebe? (lacht). Nein, Quatsch. Eine Utopie: Hoyerswerda in 20 oder 30 Jahren, östlich der Elster wächst nur noch Wald (bitte: Nicht nur Kiefern!); eine einzige, leere, langsam verfallende, elfgeschossige „Platte“ überragt die um sie herum wachsenden Bäume; die Elster ist endlich ein ernst zu nehmender Fluss und kein jämmerliches Rinnsal; die Seen rund um Hoyerswerda kann man endlich alle zum Segeln oder Angeln nutzen, ohne Angst vor Rutschungen haben zu müssen; der Zugfahrplan Richtung Dresden, Leipzig und Berlin ist erheblich verdichtet (auch abends und nachts); die KulturFabrik (oder etwas Ähnliches) gibt es immer noch; Hoyerswerda hat einen (mindestens!) Fußball-Drittligisten; man bekommt endlich mal einen der Wölfe zu Gesicht und in der Stadt lebt eine große Kolonie mit Künstlern aus möglichst vielen Ländern. Da ich aber bereits 41 bin, müsste man mit vielem jetzt schon anfangen (lacht).
Maik Radke: Mich zieht es nicht wieder zurück. Klar sind wir jedes Jahr in Hoyerswerda, die Eltern und ein paar Freunde wohnen ja dort. Dadurch ist der Kontakt zu Hoywoy nie abgebrochen. Was ich sehr vermisse, ist Industrie, denn wenn genug Arbeit vor Ort ist, dann bleiben die Leute und Hoywoy würde wieder eine jüngere Stadt werden.
Gabriele Kiunke: Nein. Meine Heimatstadt ist nicht mehr die, die sie einmal war. Mit dem Rückbau sind etliche Kindheitserinnerungen weggerissen worden. Wie wurde so schön formuliert: „Es werden grüne und blühende Landschaften entstehen.“ So ist es nun! Auch finde ich, dass die Leute alle so verbittert sind. Verständlich bei der schrumpfenden Stadt ... Ich komme aber gern zu Besuch her.
Sven Dokter: Nein. Zum einem sind fast alle, außer meiner Oma und weitläufigen Verwandten, aus HY in den Westen umgezogen. Zum anderen wohnen viele Schulfreunde gar nicht mehr in HY. Außerdem schockiert es mich bei fast jedem Besuch, dass jedes Mal ein Hochhaus weniger zu finden ist.
Steffi Koßmehl: Es gibt ein Sprichwort: Arbeit und Geld allein machen nicht glücklich. Stimmt. Ich habe vor, irgendwann zurückzukommen und in Hoyerswerda alt zu werden. Aber dafür brauche ich hier Arbeit und eine Wohnung.
Interviews: Silke Richter



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